Claudia Hartung
Zu Beginn der Forschungsgrabungen, im Herbst 2006, untersuchten wir vor allem das Gebiet westlich der Domtürme. Innerhalb weniger Wochen sind die ersten Gräber und Fundamentzüge freigelegt. Man vermag sich heute kaum vorzustellen, dass unmittelbar vor dem Hauptportal des gotischen Doms eine nicht gerade kleine Kirche gestanden hatte. Ihr Schicksal war jedoch besiegelt, als sie dem stets wachsenden Domneubau im frühen 14. Jahrhundert im Wege stand. Es handelte sich um die alte Nikolaikirche. In den frühen schriftlichen Quellen wird sie zwar benannt, aber das geschieht sehr spärlich und eher verwirrend, da auch immer wieder von einer Rundkirche die Rede ist. Ihre Entstehungszeit liegt im 10. bzw. frühen 11. Jahrhundert, ihr Abriss erfolgte laut einer Urkunde nach 1310. Auch wird in der Quelle der Standort der neuen Nikolaikirche vermerkt. Sie befand sich bis zu ihrer Beseitigung im Jahr 1959 an der Stelle des heutigen Hundertwasserhauses, also nordwestlich vom Domplatz.
Doch was wissen wir durch die Grabung von dieser älteren Nikolaikirche? Wie sah sie aus? Fangen wir beim Dach an. Es war mit einfachen Mönch-Nonne-Ziegeln gedeckt. Ein großer Unterschied zu den prächtigen Dächern der Nord- und Südkirche, welche grün glasierte Ziegel trugen. Im Inneren besaßen die Wände eine farbenprächtige Ausmalung. Der Fußboden dürfte aus einem Estrich bestanden haben. Es findet sich keinerlei Marmor – nicht wie am Domplatz oder der Krypta unter dem Dom, wo es aufwändig gefertigte Schmuckfußböden gab. Die Kirche scheint schlicht, aber durch die Ausmalung im Inneren gleichzeitig von schöner Eleganz gewesen zu sein.
Vor ihren ausgebrochenen Mauern finden wir einzelne Fundamentblöcke, wir deuten sie als Standorte kleiner Altäre. In ihrer Nutzungszeit hatte die Kirche etliche kleinere An- und Umbauphasen erfahren. Auch wurde dort bestattet. In der Nähe eines solchen vermutlichen Altarstandortes stießen wir auf ein gemauertes Grab, das laut umgebener Erdschichten ins 11. Jahrhundert datiert werden konnte. Seine recht aufwändige Bauart lässt vermuten, dass wir eine gehobene Persönlichkeit gefunden haben. Laut den Quellen wissen wir, dass es sich bei der Nikolaikirche um ein Kanonikerstift gehandelt hat. Folglich könnten wir hier einen Kanoniker vor uns haben.
Am 13. Dezember 2006 legten wir dessen Skelett frei. Sein Körper war eng von Steinen umgeben, sein Kopf lag in einer kleinen Nische. Die Form des steingefassten Grabes entsprach der Körpersilhouette des Verstorbenen. In Fachkreisen sprechen wir von einem Kopfnischengrab. Behutsam legten wir Knochen für Knochen frei.
Was lässt sich über die Person in Erfahrung bringen? Plötzlich, unter seinem rechten Knie etwas Grünes, eine Art Bronzeplatte. Vorsichtig werden die Erdschichten entfernt. Gespannt schauen alle Kollegen zu. Ist eventuell eine Inschrift zu erkennen? So wie bei jenen in den 1830er Jahren im Dom gefundenen Erzbischöfen? Nach sorgfältiger Dokumentation wird der Fund im Block geborgen und den Restauratoren übergeben. Später erfahren wir, dass auf dem Fund Textil- und Lederreste zu erkennen sind und dass die Bronzeplatte randlich eine Lochung aufweist. Sie wird vermutlich irgendwo aufgenäht gewesen sein. Schrift ließ sich leider nicht nachweisen. Dennoch sollte das Grab eine weitere Überraschung bereithalten. Am Kopf- und Fußende zeigte sich jeweils ein bearbeitetes Sandsteinfragment mit schlichter Verzierung. Die Fragmente dürften einst Teil einer großen Grabplatte gewesen sein. Wir entschließen uns für den Erhalt des Grabes und beginnen, es steingerecht abzutragen und einzulagern. Die Steine werden durchnummeriert und die Position jedes einzelnen auf den Zeichnungen vermerkt. Zum Schluss waren dies um die 140 Stück. Hoffen wir auf einen Wiederaufbau im Museum, damit es erneut seine Geschichte erzählen kann, um nicht im Dunkel zu verschwinden!